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Katja Kettu : Wildauge

Buchbesprechung von Bettina Dauch, Oktober 2014

dt. Erstausgabe: 2014 - Verlag Galiani, Berlin / Kiepenheuer & Witsch, Köln
finn. Originalausgabe: 2011 - WSOY, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Kätilö"
aus dem Finnischen von Angela Plöger
Petsamo im Sommer 1944, Finnland im Fortsetzungskrieg. Eine namenlose Hebamme aus Rovaniemi berichtet aus ihrem Leben: wie sie von der Sámin Aune Näkkälä in die Kräuterheilkünste eingeweiht wurde und sich fortan nicht nur um gebärende und nicht gebären wollende Frauen, sondern auch um so einige andere Wehwehchen ihrer Mitmenschen gekümmert hat. Stark und weise fühlt sie sich, bis sie dem charakterschwachen SS-Offizier Johannes verfällt, an den sie von Anfang an ihre sämtlichen Erzählungen adressiert. Johannes, ein leidenschaftlicher Fotograf, ist ein überzeugter Nazi und schämt sich seines Vaters, der sich schon früh von der nationalsozialistischen und antisemitischen Idee klar distanziert hatte. Auch Johannes übernimmt in dem Buch einen - wenn auch kleineren - Teil der Berichte. Eine dritte Erzählebene kommt in Form von Briefen ins Spiel, die ein Unbekannter vom 'Fjord des Toten Mannes' an seine Tochter adressiert; wobei sich dessen wahre Identität dem Leser relativ rasch erschließt. Zwischen den beiden scheinbar ungleichen Wesen, der Hebamme und dem Nazi, entsteht augenblicklich eine starke körperliche Anziehung. Wildauge, wie Johannes seine neue Flamme nennt, beschließt bereits nach der ersten flüchtigen Begegnung, dass sie alles daran setzen wird, diesen einen Mann zu bekommen, und so lässt sie sich ins Gefangenenlager Titowka versetzen, um ihrem Angebeteten nahe zu sein. Hier wird sie damit betraut, neu angekommene Gefangene zu untersuchen, und bald wird sie zur Mitarbeit an Menschenversuchen und Abtreibungen gezwungen. Von Haus aus ist Wildauge Laestadianerin und hält sich für einen guten Menschen. Über die Grausamkeiten im Lager ist sie empört. Doch ihr Verlangen nach Johannes, dem Kommandanten des Lagers, bleibt unerschüttert. Sie will ihn, er will sie. Sie will ihn beschützen, alles Böse von ihm fernhalten. Er findet sie irritierend, unheimlich, verunsichernd zuerst, auf eigenartige Weise stark und furchtlos; andererseits weckt sie in ihm auch zuweilen ein Gefühl von Sicherheit und Schutz. Sieht so Liebe aus? Vielleicht. Vielleicht kann diese Liebe doch noch einen rechtschaffenen Menschen aus Johannes machen, ihm ein Rückgrat, einen Charakter einhauchen, gar Verantwortungsbewusstsein? Doch halt! Dies ist keine Liebesgeschichte, sondern ein Buch über Krieg. Die Finnin und der Deutsche krallen sich aneinander. Und doch fehlt beiden jeglicher Respekt vor dem anderen. Kann Liebe Hass erzeugen, Teilnahmslosigkeit, Abstumpfung und Tablettensucht? Krieg kann das. Und er macht auch vor der Hebamme nicht Halt. Als sie sich im Lager Titowka einer jungen Skoltsamin annimmt, gewinnt man zwar kurz den Eindruck, dass die Menschlichkeit doch noch in ihr siegt, doch man hofft umsonst. Schließlich wird sie unter dem Deckmantel sogenannter "Liebe" selbst zur Kapitalverbrecherin. Das ganze Ausmaß von Wildauges Arroganz kommt zum Ausdruck, als im September 1944 der Wind dreht und Finnland über Nacht zum deutschen Feind wird. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es für sie bereits zu spät, sich von einer der drei einzigen menschlich integer gebliebenen Figuren des Romans helfen zu lassen…
Sprachlich ist dieses Buch ein ganz besonderes Glanzstück an Originalität und Ausdrucksgewalt. Die Höhen und Tiefen der Erzählung hat Katja Kettu in eine wuchtige, bildkräftige, teils poetische, aber auch sehr derbe und vulgäre Wortwahl und Ausdrucksweise gepackt, mit der sie auf überraschende Art experimentiert. Ein Meisterwerk auch seitens der Übersetzerin Angela Plöger, die zudem ein sehr aufschlussreiches Nachwort hinzugefügt hat. Im Oktober wurde sie mit dem Staatlichen Finnischen Übersetzer-Preis ausgezeichnet. Was nehmen wir also mit? Den Sieg des Krieges über Liebe und Menschlichkeit? Die Hoffnungslosigkeit des gesamten Menschengeschlechts? Auf jeden Fall die grausame Sinnlosigkeit jeglicher Form von Patriotismus. Zum Schluss die Frage: Soll man dieses Buch empfehlen? In sprachlicher Hinsicht unbedingt! Inhaltlich ist es schwere Kost und nichts für zarte Seelen. Und streckenweise ist die Erzählung nicht wirklich als abendliche Bettlektüre anzuraten. Es ist auch kein Buch, das man zwischen Tür und Angel runterlesen kann, sondern eines, auf das man sich vollends einlassen muss. Doch wer sich von all dem nicht abschrecken lässt, den erwartet eine bewegende, aufwühlende und auf jeden Fall außergewöhnliche Lektüre.
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