Iida Turpeinen : Das Wesen des Lebens
Buchbesprechung von Frank Rehag, Oktober 2024
dt. Erstausgabe: 2024 - S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main
finn. Originalausgabe: 2023 - Kustantamo S&S, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Elolliset"
aus dem Finnischen von Maximilian Murmann
>>Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal, wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald große Arten.<< (Iida Turpeinen / Maximilian Murmann | Das Wesen des Lebens | Seiten 59/60)
Mit Iida Turpeinens Roman Das Wesen des Lebens liegt eine außerordentlich gelungene Kombination aus naturwissenschaftlichem und literarischem Text vor, dessen Hauptprotagonistin Stellers Seekuh ist, ein friedliebendes Geschöpf, das nach seiner Entdeckung durch den Menschen innerhalb von nur 27 Jahren aufgrund exzessiver Bejagung ausgerottet wurde. Die Handlung dieses Romans erstreckt sich über knapp 300 Jahre und führt uns Lesende in vier Episoden von Helsinki in der Gegenwart zurück in die Vergangenheit über Sibirien bis nach Alaska und wieder zurück nach Helsinki in die Mitte des 20. Jahrhunderts bzw. in die Gegenwart. Dabei begegnen wir verschiedenen historischen Figuren, deren Leben auf verschiedenste Weise mit Stellers Seekuh bzw. deren Skelett verknüpft ist. Während dieser Begegnungen erfahren wir einiges über das vom Menschen verursachte Artensterben und auch, wieso eines der weltweit nur wenigen vollständig erhaltenen Skelette dieses Tieres ausgerechnet im naturhistorischen Museum Helsinkis gelandet ist. Alle Figuren sind real existierende Persönlichkeiten gewesen, zu denen die Autorin umfangreich recherchiert hat. An Stellen, zu denen keine Informationen verfügbar waren oder Iida Turpeinen keine finden konnte, hat sie sich die Freiheit der Einbildungskraft genommen.
Die erste Episode spielt zu Beginn der 1740er Jahre und erzählt die Geschichte, die das Schicksal der Seekuh besiegelte. Der deutsche Arzt und Naturwissenschaftler Georg Wilhelm Steller schloss sich der großen nordischen Expedition unter der Leitung Vitus Berings an. Das Schiff strandete auf einer Insel und während Steller auf dieser Insel unterwegs war, entdeckte er in der Ferne im Wasser Tiere, die er erst für Wale hielt. Er ließ sich von einigen Männern dorthin rudern und stellte fest, dass es Seekühe sein müssten, allerdings waren diese zehnmal größer als die bis dahin von der Wissenschaft beschriebenen. Steller entdeckte diese Tiere in einem für sie schicksalhaften Moment, denn die Besatzung hatte Hunger und stand kurz vor dem Tod. Die Männer heulten vor Glück, als sie eine Seekuh fingen, aber die Folgen waren katastrophal. Das Fleisch des Tieres erwies sich als sehr schmackhaft und ein riesiger Kadaver ernährte die Besatzung für lange Zeit. Man hatte damals die Idee, dass dieses Tier Sibirien ernähren würde, zusätzlich florierte der Pelzhandel, so dass in den Folgejahren Pelzhändler auf dieser Insel einen Zwischenstopp einlegten, um diese Tiere zu jagen. Allerdings ohne Nachhaltigkeit, denn sie waren nur sehr schwer zu fangen und es gab nachgewiesenermaßen ein Jahr, in dem knapp 500 Seekühe getötet, aber nur wenige davon verwertet wurden. So endete die Existenz der sanftmütigen Riesen und es begann die Geschichte des Skeletts.
Die zweite Episode springt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und wir begeben uns nach Novo-Archangelsk (Russisch-Amerika), heute bekannt als Sitka (Alaska). Der finnischstämmige Hampus Furuhjelm wurde als Gouverneur dorthin berufen und mit der Leitung der Kolonie beauftragt. Seine Aufgabe war es, die Kolonie in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wieder rentabel zu machen, doch die Ressourcen waren vor allem aufgrund der maßlosen Pelztierjagd verbraucht, es gab kaum noch Otter oder Füchse, damit war die einstige Quelle des Reichtums versiegt. Allerdings gelang es Hampus Furuhjelm bzw. den von ihm beauftragten Mineraliensammlern, entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein Seekuh-Skelett aufzutreiben. Damit erfüllte Furuhjelm den Wunsch des mit ihm befreundeten Alexander von Nordmann, Professor für Zoologie an der Kaiserlichen Alexanders-Universität zu Finnland in Helsinki. Dieser wollte für die naturhistorische Sammlung in Helsinki das wertvollste aller Objekte des Nordens, die Rhytina stelleri – Stellers Seekuh, die damals jeder haben wollte, die sozusagen als Heiliger Gral unter den Exponaten galt. Hampus Furuhjelm bleibt jedoch nicht die einzige Hauptfigur dieser Episode. Zwei wirklich gute Wendungen lenken den Blick zunächst auf Furuhjelms Ehefrau Anna, deren Alltag wir kennenlernen und die sich mit der Lebenssituation in der Kolonie sehr schwer tat, und anschließend auf Furuhjelms Schwester Constance. Diese galt als zurückgeblieben und schwarzes Schaf der Familie. Doch Constance fand ihren Platz und ihr Glück in der Tiersammlung des Gouverneurspalastes. Sie war es auch, die sich um das gefundenen Skelett kümmerte und daran arbeitete. Zur damaligen Zeit war es nahezu ausgeschlossen, dass Frauen sich mit Naturwissenschaften beschäftigten.
Diese Thematik wird auch in der dritten Episode aufgegriffen, die im gleichen Zeitraum spielt. Einst gehörte Alexander von Nordmann zu den begabtesten Naturmalern, doch die Zeit hatte die Linsen seiner Augen getrübt. Auf der Suche nach einem Zeichner, einem Mann, der die Kunst der Beobachtung beherrschte und die Strapazen der Sammelreisen ertrug, wollte es der Zufall, dass er bei einem Abendessen mit Zacharias Topelius, dem Sekretär des Finnischen Kunstvereins, auf eine außerordentlich präzise Künstlerin namens Hilda Olson aufmerksam gemacht wurde. Nordmann wurde zum Förderer dieser Frau, die im Laufe der Jahre mehrere hundert mikroskopisch genaue Nachbildungen von Spinnen anfertigte. Nordmann beauftragte Olson zur Überraschung vieler in seinem Umfeld auch damit, das Skelett der Seekuh zu zeichnen, nachdem dieses in Helsinki angekommen war. Allerdings wurden diese Zeichnungen nicht namentlich als die von Hilda Olson gekennzeichnet, sondern als die von Alexander von Nordmann. Eine dieser Zeichnungen wurde jedoch mit H. Olson signiert. Iida Turpeinen stieß beim Durchblättern von Publikationen zufällig auf diese Zeichnung und recherchierte, dass es sich dabei um Hilda Olson handelte, eine Frau. Nach dem Tod von Nordmanns gab es zunächst keinen anderen Wissenschaftler, der so aufgeschlossen war, und die Zeichnerin Hilda Olson sah sich gezwungen, Finnland zu verlassen.
Die etwas kürzere vierte Episode spielt in den 1950er Jahren und handelt von John Grönvall, der für die Restaurierung des Skeletts von Stellers Seekuh im naturhistorischen Museum verantwortlich war. Grönvall galt als Meister der Restaurierung von Vogeleiern. Er arbeitete im Zoologischen Museum der Universität Helsinki, deren Vogeleiersammlung zu einer der größten der Welt heranwuchs. Einst war das Sammeln von Vogeleiern ein beliebtes Hobby unter Naturfreunden. Jedoch brachte das massenhafte Sammeln viele Vogelarten zum Aussterben. Seinerzeit hielt man das menschengemachte Artensterben nicht für möglich, doch Grönvall war sich dem relativ früh bewusst und wurde dadurch inspiriert, mit seinen Brüdern die Vögel auf der Insel Aspskär vor Loviisa zu schützen. Grönvall wurde zu einem Pionier des finnischen Naturschutzes und das Vogelschutzgebiet Aspskär ist heute Teil eines Meeresschutzgebietes.
Einige Funfacts gibt es auch noch. Stellers Seekuh wird sicher den meisten Lesenden bis zur Lektüre dieses Romans unbekannt gewesen sein. Dennoch erschien fast zeitgleich mit dem hier besprochenen Buch auch Georg Wilhelm Steller – Die Opfer einer Forschungsreise von Aura Koivisto (erschienen im Verlag Kohlhammer, Orig. Mies ja merilehmä. Luonnontutkija Georg Stellerin kohtalokas tutkimusmatka bei Into Kustannus Oy, 2019). Zufall oder geplant? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist in Finnland nach dem Erscheinen von Iida Turpeinens Roman nahezu eine Begeisterung rund um Stellers Seekuh ausgebrochen. Die Besucherzahl im naturhistorischen Museum ist um etwa 30% gestiegen und inzwischen ist das Skelett tatsächlich so beliebt, dass es durch eine Absperrung vor zu vielen Berührungen geschützt wurde. Auch ist es Iida Turpeinen gelungen, Hilda Olson einem größeren Publikum bekannt zu machen, vorher wusste man von dieser Zeichnerin wenig bis nichts. Ihr wird die Nationalgalerie Ateneum in Helsinki im kommenden Jahr eine Ausstellung widmen. Auch im naturhistorischen Museum sollen Bilder von ihr zu sehen sein. Nach der Lektüre umtreibt einen der unbändige Wille, diese Ausstellungen alsbald zu besuchen. Und nicht zuletzt: Alexander von Nordmann ist Namenspate der Nordmann-Tanne, der meistgenutzten Baumart als Weihnachtsbaum – Fröhliche Weihnachten!
Das Wesen des Lebens ist ein großartiges und feines Buch, mit 316 Seiten relativ schmal für einen solch umfang- und lehrreichen Inhalt über eifrige Wissenschaftler, besessene Sammler, leidenschaftliche Naturschützer und natürlich die inzwischen ausgestorbenen sanftmütigen Seeriesen. Mit berührender Erzählkunst lässt uns Iida Turpeinen die Welt und das Leben mit anderen Augen wahrnehmen. Damals hielt man das vom Menschen gemachte Artensterben für unmöglich, man wusste es nicht besser, das wissenschaftliche Denken steckte noch in den Kinderschuhen und wissenschaftliche Beobachtungen wurden mit Glauben, Religion und Mythen vermischt. Doch selbst mit dem inzwischen vorhandenen Wissen ist die wirtschaftliche Ausbeutung der belebten und unbelebten Natur immer noch aktuell, der größte Feind ist noch immer die menschliche Spezies. Und um das nochmal zu untermauern, dankt die Autorin am Ende den Arten, die während der Entstehung des Buches für ausgestorben erklärt wurden. Es sind viele...