Veera Salmi : Das Buch des Oboi
Buchbesprechung von Ulrike Krüger-Stephan, Mai 2024
dt. Erstausgabe: 2024 - Cross Cult, Ludwigsburg
finn. Originalausgabe: 2022 - Otava, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Oboin kirja"
aus dem Finnischen von Alena Vogel
>>Welchen Unterschied machte es, ob man existierte oder in einer Geschichte war, wenn sich in einer Geschichte zu sein doch so anfühlte, als würde man wirklich existieren?<< (Veera Salmi/Alena Vogel | Das Buch des Oboi | Seite 162)
Eine Stadt, in der Grünpflanzen jeden freien Quadratzentimeter einnehmen, in der das geschriebene Wort durch Lautsprecher-durchsagen ersetzt wurde und in der die Menschen durch kleine leuchtende Apparate in ihren Handflächen (sogenannte Manus) ferngesteuert werden. Als der Waisenjunge Oboi nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in Bergstadt ankommt, ist er verwirrt. Sind all die Geschichten, die man ihm über das Leben außerhalb der Gefängnismauern erzählt hat, etwa falsch? Was weiß er wirklich über die Welt? Wie soll er sich zurechtfinden? Und was ist das für ein merkwürdiges Buch, das er auf dem Flohmarkt erhalten hat? Können ihm die darin erscheinenden Texte helfen, 'das gelbe Haus' zu finden - die Aufgabe zu bewältigen, die ihm gestellt wurde? Auf der Suche nach Essen trifft er auf Thule, die an einem Ort wohnt, den es in Bergstadt eigentlich nicht mehr geben sollte - der Bibliothek. In ihr versammeln sich all jene, die aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden: Obdachlose ohne funktionierende Manus und Samuel, ein 'Alter', der die Erinnerungen an die Vergangenheit bewahrt. Als er herausfindet, dass Oboi lesen kann, obwohl das eigentlich verboten ist, entwickelt er eine Idee, die Bergstadt verändern wird…
Das Buch des Oboi ist eine unglaublich vielschichtige und in sich verflochtene Geschichte. Nichts ist, wie es scheint, und selbst der allwissende Erzähler, der die Leser*innen immer wieder direkt anspricht und leitet, ist in seiner Persönlichkeit nicht festgelegt. Während man zunächst glaubt, Oboi würde seine Geschichte selbst erzählen, wird diese Illusion mit Fortschreiten der Handlung zerstört. Dieses Spiel mit den Realitäten, mit Wahrheit und Fiktion, mit den Geschichten in der Geschichte ist dabei faszinierend und ein wenig verwirrend zugleich. Zu den Geschichten in der Geschichte gehören auch zahlreiche Bezüge zur Kinder- und Jugendliteratur: So interagieren Figuren aus Der kleine Prinz mit Figuren aus Ronja Räubertochter und für Wechsel zwischen den Dimensionen werden Anleihen aus Alice im Wunderland, der Unendlichen Geschichte und den Chroniken von Narnia genommen. Auf einer weiteren Ebene behandelt das Buch aktuelle Fragestellungen: Was ist notwendig, um das Klima zu retten? Dürfen die Maßnahmen die Freiheit des Einzelnen beschneiden? Welche Gefahren birgt unsere Fokussierung auf die Gegenwart? Wie sehr lassen wir uns von den kleinen Leuchtkästen beeinflussen, die wir ständig mit uns herumtragen?
Obwohl die Autorin in ihrer Kreativität und Schaffensfreude vereinzelt ein bisschen über das Ziel hinausschießt, ist dieses Buch über Bücher und die Kraft von Geschichten für jugendliche Leser*innen uneingeschränkt empfehlenswert. Und auch ältere Lesende können darin viele schöne Gedanken finden, denn:
>>Träume halten warm, wenn die Welt kalt ist.<< (Veera Salmi/Alena Vogel - Das Buch des Oboi - S. 221)
Das perfekte Getränk für die Lektüre dieses Buches wäre übrigens eine schöne Tasse Kakao (ein bekanntes schwedisches Kakaopulver heißt O'boy), die - wie das Buch - wärmt, nährt, inspiriert und angenehme Erinnerungen hervorruft.