Eeva Louko : Kalte Flut
('Ronja Vaara'-Reihe, Bd.1)
Buchbesprechung von Bettina Dauch, November 2024
dt. Erstausgabe: 2024 - Heyne, München
finn. Originalausgabe: 2022 - Otava, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Onnellisten saari"
aus dem Finnischen von Anu Katariina Lindemann
Am Badestrand Kasinoranta auf der Helsinkier Insel Lauttasaari wird in einer düsteren Oktobernacht eine Leiche im Meer gefunden. Anton Koivu und Oona Laine von der Kripo Helsinki schließen direkt auf Mord. Der pensionierte Geschichtslehrer Harri Vaara wurde erwürgt und trägt eine gut erhaltene Postkarte mit rätselhafter Beschriftung bei sich. Bald stellt sich heraus, dass es sich um eine von insgesamt 37 Postkarten handelt, die er jährlich seit 1984 erhalten und aufbewahrt hatte und die allesamt den Ort seines jetzigen Ablebens aus unterschiedlicher Perspektive zeigen und mit demselben Text versehen wurden.
Ronja Vaara ist Einzel- und Trennungskind und vor Jahren nach London gezogen, wo sie sich bisher eher erfolglos als Onlinejournalistin versucht. Ihre versnobte Mutter Anita hat sich früh nach Frankreich abgesetzt und zu ihrem Vater Harri hatte sie ein eher distanziertes Verhältnis. Als sie den Anruf über dessen Tod erhält, reist Ronja auf direktem Weg in ihre alte Heimat und zieht in die Wohnung ihres verstorbenen Vaters. Während die Polizei in dem Mordfall ermittelt, trifft sich Ronja mit ihren Jugendfreundinnen Milla und Ansku und macht sich selbst auf die Suche nach dem Mörder. Sie tauscht ihre Gedanken mit den Freundinnen aus, auch über deren Privatleben: Milla hat mit ihrem Mann Topi einen Stall voll Kindern, Ansku ist solo und treibt sich auf Tinder herum. Topis Mutter Helena wirft mit ihrem Verhalten bei Harris Beerdigung Fragen auf.
Von der Kripo werden zunächst Nachbarn und andere Bewohner der Insel befragt. Darunter Oliver, der dank eines Handy-Fotos einen wertvollen Hinweis geben kann, sowie Martti, der mit Harri befreundet war, aber schon etwas gebrechlich und vergesslich erscheint. Bei einer späteren Begegnung erzählt er Ronja von seinen eigenen Beobachtungen, wobei er eine zwielichtige Figur mit einem roten Ford erwähnt. Kurz darauf wird Ronja von einem roten Auto fast überfahren – war es dasselbe Auto? Bei der Autopsie findet man anhand der Würgemale heraus, dass der Mörder Linkshänder war, ebenso wie der Verfasser der Karten. Ferner findet man eine große Narbe an Harris Bauch. Nachforschungen ergeben, dass diese von einer Schusswunde aus dem Jahr 2009 stammt. Wurde der Schuss von derselben Person abgegeben, die Harri nun erwürgt hat? Und wieso hatte sich bei der damaligen OP Topis Mutter Helena im Krankenhaus als Harris Angehörige ausgegeben? Ansku bandelt derweil über Tinder mit dem Polizisten Anton Koivu an, der ziemlich unsympathisch wirkt und sich ihr gegenüber sehr schäbig verhält. Sonst ist Ansku eher unauffällig, während Ronja und Milla sich hin und wieder anzicken, streiten, schreien, zischen, schimpfen und sich gegenseitig eher einfältige Vorwürfe machen. Eine weitere Person aus Ronjas Vergangenheit tritt auf die Bildfläche: Ihr Ex-Freund Ville ist selbst gerade nach Lauttasaari zurückgekehrt und nutzt nun die gemeinsame Anwesenheit dazu, erneut mit ihr anzubandeln. Er wirkt zunächst nett und einigermaßen sympathisch, aber auch etwas plump. Und wie sich herausstellt, verbindet Ville auch eine problematische Vergangenheit mit Anton Koivu. Im Laufe der Handlung wird Ronja von zwei geheimnisvollen Frauen angesprochen: Die eine erklärt, Harri habe sie darum gebeten, Ronja zu kontaktieren, falls ihm etwas zustoßen sollte. Die andere stellt sich als Sara Lumme vor, spricht eine Warnung aus und überreicht ihr einen mysteriösen Schlüssel. Sie entpuppt sich als Topis Großtante, deren Kinder vor langer Zeit auf obskure Weise am Strand Kasinoranta verschwunden sind. Ronja forscht auch hierzu und sucht in der Bibliothek im Archiv nach alten Artikeln zum Verschwinden der Kinder. Dabei zeigt sich, dass es eine unklare Verbindung zwischen Harri und Sara gegeben haben muss. Ein weiteres Rätsel wirft Harris Testament auf, in dem er eine beachtliche Geldsumme einer Frau namens Ellen Rinne vermacht, deren Name jedoch nirgends registriert ist. Und wer ist ohne Aufbrechen der Tür in Harris Wohnung gelangt und hat diese verwüstet, ohne irgendwelche Wertsachen mitzunehmen? Was hat der Eindringling gesucht? Auch Ronjas Mutter Anita wird von der Polizei befragt und bringt diese auf eine neue Fährte, die den Fall abermals verwirrender macht. Durch diese Verwirrungen wird die Spannung sehr lange aufrechterhalten. Auch wenn sich manche Zusammenhänge relativ früh erahnen lassen, gibt es bis zum Ende noch Überraschungen.
Der Roman ist fast durchgehend in der 3. Person geschrieben und besteht vor allem aus 47 überschaubaren Kapiteln über das jeweils aktuelle Geschehen. Dazu kommen zwei weitere Erzählebenen: Zunächst gibt es einen Brief aus dem Jahr 1975 von einem Mann an eine Frau, sowie später weitere Notizen mit dem Titel "1975", die wiederum in der 3. Person, aber stets aus der Perspektive eben dieses Mannes verfasst sind. Es geht um seine große Liebe, wie er sie kennengelernt hat und dann heimlich trifft, ihre gemeinsamen Unternehmungen und die Tatsache, dass sie immer nur den einen Moment haben, denn es gibt auch den Anderen, auf den er eifersüchtig ist, das Ungeheuer, ihren Ehemann. Nach und nach erschließen sich dem Leser die Identitäten der beiden Personen. Die dritte Ebene ist das sogenannte "Logbuch" – rätselhafte Nachrichten von einer unbekannten Person an einen nahestehenden Menschen; es geht um einschneidende Erlebnisse und Verrat, aber als Leser tappt man hierzu lange Zeit im Dunkeln.
Der Roman liest sich flüssig, ist allerdings stilistisch nicht sehr hochwertig. Potenzial zur Verbesserung gäbe es beim Lektorat sowohl des Originals als auch der deutschen Übersetzung. Manche Beschreibungen wirken etwas unbeholfen, es gibt einige kitschige Passagen und vieles wird unnötig oft wiederholt und übermäßig ausgeschmückt. Gerade die ermittlungsrelevanten Fragen, die sich dem Leser ohnehin auch unausgesprochen aufdrängen, werden bis zur Schmerzgrenze in neuen Formulierungen wiedergekäut. Zudem wurde der Text teilweise inkonsistent übersetzt bzw. wohl auch unzureichend lektoriert. Neben diversen kleinen Schnitzern werden an einer Stelle gar die Namen Anton und Topi vertauscht. So gesehen ist es etwas schade, dass versäumt wurde, den stilistischen und sprachlichen Wert des Werks mit gründlicheren Lektoratsdurchgängen zu erhöhen. Das Buch ist dennoch auf jeden Fall lesenswert, da der Autorin in ihrem ersten Roman ein sehr spannender Plot gelungen ist und man somit auf jeden Fall auf die Fortsetzungen gespannt sein kann. Geschickt und überzeugend gelingt es ihr, den Leser in Atem zu halten.