Robert Åsbacka : Das zerbrechliche Leben
Buchbesprechung von Annemarie Leibenguth, September 2010
dt. Erstausgabe: 2010 - Carl Hanser Verlag, München
finn. Originalausgabe: 2008 - Schildts, Helsinki
Titel der schwedischsprachigen Originalausgabe: "Orgelbyggaren"
aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Zerfurchte Felsen, ein kleines Holzhäuschen, das Meer. Mit Buchtitel und Umschlagbild lenkt der Carl Hanser Verlag das Augenmerk des Lesers von Robert Åsbackas Das zerbrechliche Leben auf die Themen Einsamkeit und Vergänglichkeit, die Åsbacka mit dem von ihm viel zitierten Samuel Beckett verbinden. Die Originalausgabe trägt den Titel Orgelbyggaren (Schildts Förlag, 2008) - Der Orgelbauer -, der im ersten Moment verwirrt, aber mit der Zeit den Blick frei gibt auf die konstruktive Kraft der Gedanken und der Sprache, die ein Überleben möglich machen.
Der knapp 80-jährige Johannes Thomasson lebt seit dem Tod seiner Frau Siri zurückgezogen in Nykarleby/Österbotten. Die Tochter Maja ist an Krebs gestorben und zu den Enkeln hat Thomasson keinen Kontakt. Siri, die Organistin, war musik- und literaturinteressiert und kontaktfreudig, während Thomasson eher ein stiller Zuhörer und Beobachter ist. Beim Morgenspaziergang hilft Thomasson einem Jungen, der von Klassenkameraden gemobbt wird, und verstaucht sich dabei den Fuß. Damit beginnt der körperliche Verfall, den der Roman in Stationen beschreibt. Diese Stationen steigen von den Füßen den Körper hinauf bis zum Gesicht, so wie Buxtehude den Leidensweg Christi in einem Lieblingsstück Thomassons, "Membra Jesu nostri", vertont hat und auch so, wie Wasser in ein Schiff eindringt und es in die Tiefe zieht. Mit dem verstauchten Knöchel beginnt aber auch die Offenlegung eines sozialen Netzes, mit dem Thomasson nicht gerechnet hätte. Der Junge, Mika, lebt mit seiner Familie in dem Haus, das einmal Thomassons Familie gehört hat. Die Nachbarn im aktuellen Domizil sind miteinander verwandt und stammen ursprünglich aus dem gleichen Dorf wie Thomasson, darüber hinaus sind sie mit Mikas Familie verbandelt. Auch der am liebsten über Katastrophen, Verschwörungstheorien und andere politische Themen diskutierende Berg, den Thomasson mit einer Mischung aus Bewunderung und Scham im Rollstuhl vor dem Elektroladen sitzen sieht, ist Teil dieser Ersatzfamilie. Einer unerwarteten Menschenfamilie, die Thomasson selbstverständlich und liebevoll in seiner wachsenden körperlichen Unbeweglichkeit beisteht und die andere Bereiche seines Lebens in Bewegung bringt. Siris Tod im September 1994 auf der Estonia beschäftigt Thomasson, der auf dem Schiff als Lagerverwalter beschäftigt war, als es noch Viking Sally hieß, fast pausenlos. Die Passagen, in denen er sich immer und immer wieder im Detail ausmalt, wie es Siri ergangen sein könnte in dieser Nacht, sind bedrückend intensiv und lassen den Leser die unfassbare Leere spüren, die die ungeklärten Ereignisse und der offizielle Umgang damit bei den Hinterbliebenen verursacht haben. Thomassons hofft, dass, wenn er nur alle Varianten des Untergangs in Gedanken durchlebt hat, er seine (nie benannte) Schuld, Siri allein und im Stich gelassen zu haben, wieder gut machen kann. So wie er im heimischen Wohnzimmer eine Kirchenorgel für Siri aus zusammengetragenen Einzelteilen konstruiert, baut er auch an einer tragfähigen Version der Ereignisse. Åsbackas Erzählweise folgt diesem Prinzip und setzt aus scheinbar disparaten und nicht chronologisch geordneten Elementen Thomassons Lebensgeschichte zusammen. Das Ergebnis ist, wie die Orgel, wie alle Erklärungen, wie das Leben selbst unvollständig, und das ist gut so. Thomasson erkennt durchaus, dass es absurd ist, auf Siris Rückkehr zu warten (wie Vladimir und Estragon bei Beckett auf Godot warten), aber gerade die Absurditäten des Lebens und die lakonische Beschreibung aus Thomassons Sicht puffern die thematische Schwere des Romanes still und humorvoll ab. Das Leben ist einfach so: unerklärlich, unabänderlich, traurig und fröhlich, einsam und gemeinsam, voller Zweifel und gleichzeitig voller Hoffnung. Das zerbrechliche Leben ist ein Buch für stille Stunden und für Freunde des absurden Theaters.