Rosa Liksom : Über den Strom
Buchbesprechung von Ulrike Krüger-Stephan, Januar 2025
dt. Erstausgabe: 2024 - Penguin Random House Verlagsgruppe, München
finn. Originalausgabe: 2021 - Like, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Väylä"
aus dem Finnischen von Stefan Moster
Nordfinnland im Frühherbst 1944: Zehntausende Menschen sind auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung. Mittendrin befindet sich ein junges Mädchen, das gemeinsam mit Gesinde vom Nachbarhof die Kühe der Familie in Sicherheit bringen möchte. Mutter und Onkel sind bereits vorausgefahren und wollen am Fluss warten. Doch als das Mädchen mit der Fähre nach Schweden übersetzt, sind die Familienmitglieder verschwunden. Und auch die Unterbringung von Mensch und Vieh ist nicht ganz einfach, da viele Notunterkünfte bereits überfüllt sind und die zuständigen Behörden sie ständig weiterschicken. Eine Suche beginnt, in deren Verlauf das Mädchen erwachsen wird.
Rosa Liksoms Roman deutet den Umbruch zum Kriegsende als einen Aufbruch ins Ungewisse:
»Da kam mir der Gedanke, dass die alte Welt untergeht, und in meinem Bauch rumorte die Angst vor dem, was morgen kommt. Ich konnte mich aber beruhigen, indem ich dachte, die Zeit ändert sich, so wie sich alles ändert, sie löst sich auf, zerfällt, verklumpt zu etwas anderem, und daraus entsteht und wächst dann etwas Neues.« (Rosa Liksom / Stefan Moster | Über den Strom | Seite 21 f.)
Aus der Ich-Perspektive im Präteritum und weitgehend ohne wörtliche Rede erzählt, entfaltet der Text einen eigenwilligen Zauber. Poetische Beschreibungen der nordischen Natur im Wandel der Jahreszeiten bilden den Rahmen für die Handlung. Wiederkehrende Motive in Form bestimmter Aufzählungen und Überlegungen erzeugen eine Art Rhythmus. Sprachlich auffällig ist zudem der Gebrauch von Vulgarismen, der vermutlich als Marker für die soziale Herkunft der namenlosen Protagonistin dient. Das Mädchen ist ebenso heimatverbunden wie offen für die umgebende Welt: Vorstellungen aus Bibel und finnischer Mythologie stehen neben Erklärungsmustern aus der modernen Naturwissenschaft. Die Erlebnisse auf der Flucht eröffnen neue Perspektiven. Welchen Weg wird das Mädchen einschlagen?
Der Roman lebt weniger von seiner Spannungskurve, als von der besonderen Verbindung von Form und Inhalt. Er handelt von Kriegs- und Fluchterlebnissen in all ihrer Bandbreite, einschließlich Menschlichkeit, Mitgefühl und zarter Liebe. Wenn man sich auf ihn und seinen Rhythmus einlässt, kann man sich treiben und berühren lassen und erhält einen besonderen Einblick in eine historische Periode, deren literarische Aufarbeitung auch in Finnland noch lange nicht abgeschlossen ist.