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Tommi Kinnunen : Das Licht in deinen Augen

Buchbesprechung von Frank Rehag, Juli 2020

dt. Erstausgabe: 2019 - Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München
finn. Originalausgabe: 2016 - WSOY, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Lopotti"
aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
Das Licht in Deinen Augen ist die Fortsetzung der Familiengeschichte um die Löytövaaras. Zwar ist es problemlos möglich, das hier vorliegende Buch losgelöst vom Einstiegsroman (Wege, die sich kreuzen) zu lesen, dennoch wäre für ein noch besseres Verständnis die Kenntnis der Vorgeschichte hilfreich. In dieser waren Maria, Lahja, Kaarina und Onni die Protagonisten, in der nun hier vorliegenden Fortsetzung gibt es zwei Hauptfiguren. Die blinde Helena ist die Tochter von Lahja und Onni, der deutlich jüngere Tuomas Helenas Neffe. Neben dem bereits bekannten Dorf in Nordfinnland kommen diesmal Helsinki und Turku als Schauplätze hinzu.
Helena ist seit ihrer Geburt blind und in den 1950er Jahren wird sie im Alter von etwa zehn Jahren gegen ihren Willen nach Helsinki geschickt, damit sie dort eine Blindenschule besuchen kann. Dies sei besser für sie, meinen die Eltern. Sie fühlt sich von der Familie im Stich gelassen und geht seitdem auf sich alleine gestellt ihren Weg, lernt Klavierspielen an der Sibelius-Akademie und meistert ihr Alltagsleben. Ein Leben ohne Licht, dafür eines mit viel Sinnlichkeit: Gerüche und Geräusche sind ihre Welt, die Tätigkeit als Klavierstimmerin ist für sie wie geschaffen. Sie verliebt sich in Kari und heiratet ihn, doch die Ehe zerbricht an der Kinderlosigkeit. Helena erleidet mehrere Fehlgeburten, die sie selber verursacht – auch weil der Arzt sie unter Druck setzt, der es für falsch hält, dass blinde Frauen Kinder bekommen. Auf der Zielgeraden ihres Lebens wird sie zwar zu einem im Rollstuhl sitzenden Pflegefall, doch ihren Lebensmut behält sie trotz aller Widrigkeiten bei.
Tuomas verlässt den Norden Finnlands Richtung Süden aus dem gleichen Grund, weswegen seine Tante Helena nicht mehr vom Süden zurück in den Norden zieht: im Süden lebt es sich leichter, dort wird man nicht nur auf eine Eigenschaft beschränkt. Als Homosexueller sieht Tuomas keine Perspektiven im Dorf und geht zum Studieren nach Turku; aber auch, um seine Homosexualität vor der Familie verheimlichen und in der Stadt ausleben zu können. Leicht ist es allerdings auch dort nicht, die Gesellschaft ist in den 1980er und 1990er Jahren nicht offen für homosexuelle Beziehungen, zumal auch AIDS als Bedrohung wahrgenommen wird. Im Finanzwesen, in dem Tuomas arbeitet, werden Schwule kaum akzeptiert, diese sollten lieber Friseur oder Kellner werden. Im Arbeitsleben verheimlicht er seine Neigung und kommt beruflich voran. Privat hangelt er sich von einer kurzen Liebschaft zur nächsten, bis er schließlich das Outing wagt und mit Osku einen festen Partner findet. Sie lassen ihre Partnerschaft eintragen und träumen von einem Familienleben mit Haus und Kind. Doch das lässt sich alles nicht so leicht umsetzen, wie geplant...
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, von denen jeder mit einer kurzen fiktiven Geschichte um einen Gutshof beginnt: "Die Anfänge des Gutshofes", "Der Gutshof wächst", "Abenddämmerung auf dem Gutshof". Im übertragenen Sinne stehen diese Geschichten für die Lebensphasen Helenas und Tuomas'. Die einzelnen Kapitel innerhalb dieser drei Teile wechseln stetig zwischen den beiden Hauptfiguren. Helena erzählt ihr Leben aus der Ich-Perspektive, von Tuomas' Leben wird aus der personalen Erzählperspektive berichtet. Beide passen mit ihrem 'Anderssein' nicht in das stereotype Rollenbild der Gesellschaft, beide kämpfen sie um Akzeptanz. Wohl gerade deshalb ist die familiäre Bindung zwischen Tante und Neffe ausgeprägter als die zu anderen Mitgliedern der Familie. Abermals schöpfte Tommi Kinnunen für die Grundlage dieses Romans aus dem reichhaltigen Fundus seiner eigenen Familiengeschichte. Er ist ein großartiger Erzähler, der mit seiner Erzählkunst den Leser mitten ins Geschehen zieht. Irgendwie hat man das Gefühl, dass die Protagonisten gute alte Bekannte sind, die man nach langer Zeit wiedersieht und von denen man erfahren möchte, wie es ihnen inzwischen ergangen ist. Man möchte hoffen, dass Kinnunen noch viele andere spannende Lebensläufe in seiner Familie aufstöbert und auf Basis deren niederschreibt. Potential scheint jedenfalls vorhanden zu sein, wenn man den skizzierten Familienbaum auf der Innenseite des Buchdeckels zum Maßstab nimmt. Vorzüglich ist erneut die klare Sprache Kinnunens, der auch mit einigen Bonmots aufwartet – wobei in diesem Falle auch Gabriele Schrey-Vasara für die deutsche Fassung Lob gebührt, besonders auch für die Identifikation der Kapitelüberschriften mit den zugehörigen Texten. Die Überschriften sind anders als gewöhnlich Titel von Schlagern, Kinder- oder Kirchenliedern. Dass die Kapitel zu Tuomas ausnahmslos mit ESC-Liedern benannt sind, ist dann aber doch sehr klischeehaft – auch wenn der ESC mit seiner homofreundlichen politischen Botschaft unter Schwulen die wohl größte Musikveranstaltung darstellt. Letztlich bleibt nach Beendigung der Lektüre das Gefühl, dass man noch lange nicht genug von dieser Familiengeschichte hat. Oder um es mit Theodor Storms kleinem Häwelmann zu sagen: "Mehr, mehr!"
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